Wirtschaft TV-Redakteur Stefan Gäbler hat den neuen ungarischen Botschafter in der Vertretung des Landes gegenüber vom Brandenburger Tor zum Interview getroffen. Dr. Peter Györkös (Foto rechts) wurde 1963 in Zirc/ Ungarn geboren. Er promovierte in Budapest mit dem Thema „Pläne für die deutsche Einheit in der Periode der Teilung und der Vereinigung Deutschlands“. 2010-2015 war er Botschafter und Leiter der Ständigen Vertretung Ungarns bei der EU in Brüssel. Seit Ende 2015 ist er Botschafter seines Landes in Berlin.
Wirtschaft TV: Sehr geehrter Herr Botschafter, wie schätzen Sie die aktuelle Lage der ungarischen Wirtschaft ein?
Györkös: Vor sechs Jahren war Ungarn, die ungarische Wirtschaft, die ungarische Staatsfinanzierung, in einer schlechten Situation. Ungarn war das erste Land, das um den Rettungsschirm bitten musste. Dann ist es uns nach den ersten Stabilitätsmaßnahmen gelungen, unsere Zusammenarbeit mit dem IWF zu beenden. Dieses Jahr werden wir den Rest unserer Schulden auch der EU zurückzahlen. Inzwischen haben wir viele strukturelle Reformen eingeführt, wobei das Haushaltsdefizit stabil unter drei Prozent liegt – zwischen zwei und 2,5 Prozent. Auch die Staatsverschuldung sinkt weiter, was nicht unbedingt eine allgemeine Erscheinung in Europa ist. Sie ist immer noch relativ hoch – ca. 76 Prozent – lag jedoch vor einigen Jahren noch bei über 80 Prozent, sprich die Tendenz ist vielversprechend. Schauen wir uns die Leistungsfähigkeit der ungarischen Wirtschaft an, insbesondere der Außenhandel. Der ungarische Export war in 2015 über 90 mrd €, mit einem Überschuß 8,4 mrd €. Davon übrigens mehr als 26 Prozent in Richtung Deutschland. Diese Zusammenarbeit mit der deutschen Wirtschaft entwickelt sich in erster Linie in High-Tech-Produkten, Industrieprodukten, Maschinenbau, Autos. Das zeigt, dass die ungarische Wirtschaft auch auf der globalen Bühne auftreten kann.
Wirtschaft TV: Sie haben die Hilfsmaßnahmen im Euroraum bereits angesprochen. Wie bewerten Sie diese Hilfsmaßnahmen? Griechenland und Portugal sind ein Thema und auch Ungarn hat Hilfsmaßnahmen in Anspruch nehmen müssen.
Györkös: Ungarn ist kein Thema mehr. In den letzten zwei, drei Jahren ist es uns gelungen, die Probleme in vollem Umfang zu lösen. Der letzte Schritt geschah vor kurzem als die Kommission das Frühlingspaket vorgelegt hat. Ungarn ist auch aus den Präventivmaßnahmen der Macroeconomic Imbalance Procedure geraten. Das heißt wir gehören zu den stabilsten Volkswirtschaften innerhalb der Europäischen Union.
Wirtschaft TV: Welche weiteren äußeren Faktoren beeinflussen die ungarische Wirtschaft? Das Stichwort IWF ist gefallen, wie sieht es mit anderen Ländern aus?
Györkös: Mit dem IWF haben wir vor vier Jahren unsere Verhältnisse geklärt und wir stehen momentan nicht in Kontakt, was sicherlich ein positives Zeichen ist. Andererseits ist es für uns sicherlich nicht ohne Bedeutung, was in der Eurozone geschieht. Zwar haben wir den Euro noch nicht eingeführt, doch die Eurozone ist unser größter Partner – insbesondere die deutsche Wirtschaft. Eine sich stabilisierende und sich entwickelnde Eurozone ist mehr als wichtig. Leider ist dies nicht der Fall und wir sehen, dass einige nicht unbedingt kleine Mitgliedsstaaten Probleme haben und dazu können wir nur sagen, dass auch in diesem Bereich europäisches Recht missachtet wurde, die gemeinsam verabschiedeten Regeln wurden nicht respektiert. Dadurch ist die Haushaltsdisziplin in den Hintergrund geraten. Strukturreformen sind in einigen Mitgliedsstaaten nicht zustande gekommen und das schwächt nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit dieser Staaten sondern der Europäischen Union als Ganzes. Dies sollte sich ebenso ändern wie die Schengen-Geschichte – wir möchten zum europäischen Recht zurückkehren.
Wirtschaft TV: Kommen wir explizit auf Ungarn zu sprechen. Die Werte an der Budapester Börse entwickeln sich in letzter Zeit sehr positiv. Wie bewerten und erklären sie sich das?
Györkös: Hierzu habe ich drei Erklärungen. Die erste wären die bereits angesprochenen stabilisierenden Maßnahmen, die in Ungarn so erfolgreich umgesetzt worden sind. Zweitens sicherlich auch die Tatsache, dass die Unternehmen, die in Ungarn tätig sind, sowie die ungarischen Unternehmen, eine starke Performance vorweisen können und drittens, dass sich Ungarn als mitteleuropäisches Land in einer Region befindet, die, was die zukünftige Leistung der europäischen Wirtschaft anbelangt, vielversprechend ist. Wenn Sie sich umschauen, dann stehen die Visegrad-Staaten eher auf der positiven Seite der europäischen Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit.
Wirtschaft TV: In Deutschland ist der EU-Beitritt der Türkei ein viel diskutiertes Thema. Mich interessiert an dieser Frage der wirtschaftliche Aspekt: Was hätte der Beitritt für wirtschaftliche Konsequenzen für Ungarn und welche Auswirkungen auf die EU?
Györkös: Auch wenn als Nebeneffekt der Migrationskrise die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschleunigt werden, sehe ich in absehbarer Zeit überhaupt nicht die Bedingungen für einen Beitritt der Türkei. Wie Sie bereits gesagt haben, vergessen wir die politischen Aspekte. Was die wirtschaftlichen Aspekte anbelangt, sehe ich nicht unbedingt, dass es in gewissen Bereichen kurzfristig im Interesse der Türkei wäre, diese Beitrittsverhandlungen abzuschließen. Nehmen Sie gemeinsame Agrarpolitik, nehmen Sie Wettbewerbspolitik, staatliche Beihilfe, öffentliche Ausschreibungen – wirtschaftliche würde ich eher sagen, dass Europa die Türkei als einen wichtigen Partner ansieht, dass man versucht, gegenseitig das Potenzial dieser Arbeit zu nutzen, sei es Energie, seien es Dienstleistungen. Die türkische Arbeitskraft hat schon oft, insbesondere hier in Deutschland, bewiesen, dass sie leistungsfähig ist und zur Leistungsfähigkeit ihrer Volkswirtschaft beitragen kann.
Wirtschaft TV: Deutsche Unternehmen frohlocken auf Grund der Annäherungen des Westens an den Iran und sehen dort große Potenziale. Wie bewerten Sie das aus ungarischer Sicht? Stürmen nun ungarische Unternehmen den Markt?
Györkös: Nicht alleine die Unternehmen, sondern Unternehmen in Begleitung des ungarischen Ministerpräsidenten. Unser Ministerpräsident hat den Iran bereits offiziell besucht. Das verdeutlicht, welche Bedeutung wir den Möglichkeiten beimessen. Wir möchten übrigens auch nachforschen, in welchen Bereichen es möglich wäre, dass ungarische und deutsche Unternehmen gemeinsam auf diesem Markt auftreten. Eines ist klar, es ist eine riesengroße Wirtschaft, ein riesengroßer Markt mit vielen Möglichkeiten. Sie sind in der Lage, die Waren zu bezahlen. Auf Grund der lange andauernden Sanktionen hängen sie in vielen Bereichen noch hinterher. Genau dieses Potenzial gilt es nun zu nutzen. Dabei gibt es natürlich einen Wettbewerb, auch unter den europäischen Unternehmen und Wirtschaften – aber das ist gut so.
Wirtschaft TV: Gibt es bereits konkrete Ideen für den gemeinsamen Markteintritt ungarischer und deutscher Unternehmen?
Györkös: Die sind noch in der frühen Phase.
Wirtschaft TV: Geben Sie uns einen Ausblick über die Entwicklung der ungarischen Wirtschaft im kommenden Jahr.
Györkös: Am wichtigsten ist für uns, neben der Stabilisierung der bisher erzielten Ergebnisse, die Fortführung bereits begonnener Strukturreformen, beispielsweise im Bildungswesen. Was ich auch von deutschen Unternehmen höre ist, dass es bei der Suche nach ausgebildeten Fachkräften immer mehr Probleme gibt. Daher haben wir in Ungarn das Bildungssystem umgestellt – übrigens nach dem Vorbild der deutschen dualen Ausbildung. Sicherlich gibt es neue Herausforderungen, auf die wir uns im Interesse unserer Volkswirtschaft vorbereiten müssen, die wir beschleunigen müssen, insbesondere in zwei Bereichen: Digitalisierung und Elektromobilität. Wenn Sie sehen, welchen Anteil die deutschen Automobilhersteller an der ungarischen Wirtschaft haben, ist es nur logisch, dass wir in diesen Bereichen unsere Aktivitäten beschleunigen, aber sicherlich auch in anderen Bereichen wie Medizintechnik oder Pharma. Wir möchten natürlich auch traditionell ungarische Bereiche, Landwirtschafts- und Agrarprodukte wie gute ungarische Weine, Fleisch, Salami vorantreiben.
Wirtschaft TV: Besten Dank für das Interview, Herr Botschafter.
Autor: Stefan Gäbler