Wirtschaft TV-Redakteur Stefan Gäbler hat Dr. Csaba Latorcai zum Interview getroffen. Mit dem Staatssekretär für besondere Aufgaben der ungarischen Regierung hat er sich über die aktuelle Lage Ungarns unterhalten.
Wirtschaft TV: Sehr geehrter Herr Dr. Latorcai, wenn Sie freie Wahl hätten, worüber würden Sie, aus ungarischer Sicht, mit uns als deutsches Medium sprechen wollen?
Latorcai: Über das ungarische Volk, über Ungarn, die ungarische Kultur, über unsere Art zu denken sowie die Mentalität. Es ist wichtig einander zu verstehen, um miteinander auszukommen. In Ungarn gibt es eine Redewendung: Du bist so viele Menschen, wie du Sprachen sprichst – jede Sprache geht schließlich mit einer anderen Kultur und einem völlig anderen Denken einher. Um einander zu verstehen, reicht es nicht aus, die Sprache zu sprechen, sondern die Art zu denken muss man ebenso kennen.
Wirtschaft TV: Zeichnen Sie bitte ein realistisches Bild von Ungarn.
Latorcai: Ich denke, grundsätzlich schätzen Deutsche Ungarn ganz realistisch ein. Wenn wir sehen, wie die unterschiedlichen Nachrichten über Ungarn in der Presse ankommen, die Kommentare wir lesen, kommen diese in der Kommunikation der Deutschen völlig realistisch an. Zumindest solange die Presse die Dinge nicht anders auslegt, in bestimmten Fällen nehme ich sogar an, verdreht, die in Ungarn geschehen.
Wirtschaft TV: Und wer sieht die Dinge richtig, die Politik oder die Gesellschaft?
Latorcai: Ich denke, die Deutschen sehen es völlig realistisch. Schauen wir uns an, wie die Leute in Bayern über die Migrationskrise denken. Ich denke, dass die Gesamtheit die Frage genau so bewertet, wie wir das tun.
Wirtschaft TV: Tun sie das auf Grund ungarischen Einflusses?
Latorcai: Nein, ich denke, das ist einfach rational.
Wirtschaft TV: Was hebt Ungarn von anderen EU-Staaten ab?
Latorcai: Ich würde nicht davon sprechen, dass wir uns abheben, eher würde ich sagen, dass wir uns unterscheiden. Wir sagen offen unsere Meinung. Wir trauen uns, unsere Ansichten, Probleme, unverblümt mitzuteilen.
Wirtschaft TV: Sind Sie, Ihrer Meinung nach, erfolgreich damit? In der EU beispielsweise vertritt der ungarische Ministerpräsident Orbán eine gänzlich andere Meinung als die deutsche Bundeskanzlerin.
Latorcai: Die Frage ist deshalb interessant, weil es mit immer schwerer fällt zu beantworten, was wir unter EU verstehen, wen wir als Entscheidungsträger in der Europäischen Union betrachten. Ich sehe, dass der Europäische Rat, das höchste Entscheidungsorgan der Europäischen Union, Entscheidungen gefällt hat, die, dank der Argumentation Viktor Orbáns, für Ungarn akzeptabel waren. Es gab Beschlüsse, die nicht hinzunehmen waren – diesen Fällen müssen wir im Interesse Ungarns entgegentreten.
Wirtschaft TV: Wie realistisch ist ein EU-Austritt Ungarns?
Latorcai: In meinen Augen ist das zurzeit keine Alternative.
Wirtschaft TV: Mit der EU-Politik ist man in Ungarn allerdings unzufrieden.
Latorcai: Wir sind nicht zufrieden, aber Teil der EU und möchten nun Veränderungen bewirken – unseren Vorstellungen entsprechend gelingt das auch. Beispielsweise die Visegrader Vier: Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn. Es ist uns gelungen, gemeinsame Standpunkte zu finden, die wir nun in die EU einbringen. Gemeinsam können wir so die Politik der Union beeinflussen.
Wirtschaft TV: Den deutschen Medien ist kaum etwas über die inneren Prozesse der Visegrader Staaten zu entnehmen. Wie sieht Ihre Zusammenarbeit konkret aus? Mit welchen Konflikten müssen Sie sich auseinandersetzen?
Latorcai: Wir suchen gemeinsam nach Lösungen, die für alle vier Staaten interessant sind. So ist für alle Nationalitäten – Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn – eine Perspektive erkennbar.
Wirtschaft TV: Gelingt es Ihnen, sämtliche Mitgliedsstaaten zufriedenzustellen?
Latorcai: Allerdings. Wir sehen, dass es innerhalb der EU Fragen gibt, die bedauerlicherweise von einer bestimmten Elite nicht einmal angesprochen werden.
Wirtschaft TV: Von vielen Seiten ist davon zu hören – im Sinne von: Die da oben verstehen die wahren Probleme gar nicht. Wie könnte man eine Änderung zum Besseren bewirken, sodass die Politik sich erfolgreicher mit den Problemen der Länder und Menschen befasst?
Latorcai: Wir sehen es so, dass die EU-Kommission begonnen hat, ein Eigenleben zu entwickeln. Das ist nicht unbedingt im Interesse der Mitgliedsstaaten und der Regierungen der Mitgliedsstaaten. Es muss klar sein, dass die EU-Kommission nicht selbstständig handeln, sondern die Beschlüsse des EU-Rats ausführen soll.
Wirtschaft TV: Ungarn hatte in der Vergangenheit finanzielle Schwierigkeiten, die mittlerweile behoben werden konnten. Aktuelles Sorgenkind ist Italien. Wie können Länder wie beispielsweise Italien aus den Fehlern anderer Staaten lernen?
Latorcai: Wir standen Hilfestellungen stets aufgeschlossen gegenüber und haben darauf hingewiesen, dass es keine Universallösungen gibt. Vielleicht ist gerade das der Fehler innerhalb der EU, dass versucht wird, alles zu vereinheitlichen. Jedes Land hat seine kulturellen Eigenheiten. Dinge, die in einem Staat funktionieren, gelingen vielleicht in einem Anderen nicht. Jeder muss seine eigenen Lösungen finden. Natürlich können Konsultationen durchgeführt werden und so Lösungen entwickeln, die nicht bloß einem Land passen, sondern mehreren. Hierbei waren und sind wir weiterhin Partner.
Wirtschaft TV: Wie aufgeschlossen sind die anderen EU-Mitgliedsstaaten ungarischen Hilfestellungen gegenüber beispielsweise in diesem Fall Italien?
Latorcai: Im Fall Italien möchte ich keine Stellung beziehen. Allerdings ist erkennbar, dass Ungarn im Jahr 2010 begonnen hat, seinen eigenen Weg zu gehen. Es waren viele Stimmen zu vernehmen, die behauptet haben, dieser Weg führe ins Leere. Der Weg hat sich aber bewährt und führt sehr wohl in eine bestimmte Richtung. Mittlerweile sind sechs Jahre vergangen und immer mehr Länder versuchen den ungarischen Weg einzuschlagen und zu übernehmen.
Wirtschaft TV: Gibt es Pläne, den EURO einzuführen?
Latorcai: Natürlich gibt es die! Ungarn hat diese nie aufgegeben, das war stets das Ziel. Die Einführung darf keine Belastung sein. Viele Länder haben den EURO eingeführt, waren jedoch nicht wirklich vorbereitet.
Wirtschaft TV: Welche der zu erfüllenden Kriterien zur EURO-Einführung sind in Ungarn noch nicht erfüllt?
Latorcai: Größtenteils sind die Kriterien bereits erfüllt, soweit ich weiß. Die Einführung des EURO hat aber nicht Priorität, sondern die Stabilität und Unversehrtheit der ungarischen Volkswirtschaft. Das ist uns am wichtigsten. Daneben arbeiten wir selbstverständlich weiter an der Einführung.
Wirtschaft TV: Wann ist damit zu rechnen?
Latorcai: Einen Zeitpunkt kann ich Ihnen nicht nennen.
Wirtschaft TV: Welchen Einfluss hat der anstehende Brexit schon jetzt auf die ungarische Wirtschaft?
Latorcai: Bereits, dass für den Brexit gestimmt wurde, hat einen Einfluss. Soweit ich weiß, hat die Situation, dass der erste Mitgliedsstaat die Union verlässt, einen großen psychologischen Einfluss. Ich denke aber, dass man den Einfluss und die Folgen noch nicht messen beziehungsweise absehen kann. Wir haben damit begonnen, uns darauf einzustellen und uns darauf vorzubereiten, welche finanziellen und wirtschaftlichen Folgen das haben kann. Da dies ein langer Prozess sein wird, können wir noch keine Einschätzung geben. Die ungarische Regierung arbeitet daran, die negativen Folgen so gering wie möglich zu halten.
Wirtschaft TV: Sie haben von europäischer Sicherheit gesprochen. Nun geht es aktuell nicht nur um volkswirtschaftliche Sicherheit, sondern auch um die Bekämpfung von Terrorismus. Wie kann man die Sicherheit erhöhen?
Latorcai: Ich denke, wir brauchen einen einheitlichen Kurs in Gesellschaft und Politik. Was wir sagen, das müssen wir auch tun. Das ist das wichtigste. Ich sehe es so, dass die größte Angst der Menschen Unsicherheit und Perspektivlosigkeit sind. Man muss den Menschen Perspektiven bieten. Heute ist damit zu rechnen, dass das, was früher ganz Europa charakterisiert hat nach dem Zweiten Weltkrieg, praktisch von Anbeginn der 2000-er Jahre, seit Beginn der Krise 2007, hinfällig ist.Schauen wir uns an, wie hoch die Jugendarbeitslosigkeit beispielsweise in Spanien ist. Ich denke, das muss sich ändern. Das können wir allerdings erst tun, wenn wir wissen, welche Grundsätze und Werte wir bewahren möchten, um ein kulturelles, wirtschaftliches und sogar soziales Europa bilden zu können.
Wirtschaft TV: Vielen Menschen, auch in Deutschland, erscheint die Politik der EU ziel- und perspektivlos. Wie kann sich das ändern?
Latorcai: Aktuell sehe ich kein Ziel, keinen Punkt, an dem die EU in zehn Jahren sein möchte. Es müssen einheitliche Ziele gefunden werden.
Wirtschaft TV: Welche Ziele hat Ungarn?
Latorcai: Wir als Ungarn denken, dass die europäische, christliche Kultur erhalten werden muss. Das Christentum ist ein. Glaube, mit dem eine Kultur einhergeht. Das Christentum ist nicht der Humanismus, sondern der Humanismus ist Teil des Christentums. Die grundlegenden Werte müssen erhalten bleiben. In diesem Rahmen können die Grundsätze der EU neu gedeutet werden. Wenn wir die Wirtschaft auf Solidarität aufbauen, bedeutet dass Vertrauen für jeden ehrlich arbeitenden Menschen.
Wirtschaft TV: In der Migrationskrise sind die ungarischen und deutschen Meinungen gegenteilig. Mittlerweile bewegen wir uns vielleicht aufeinander zu – die Balkanroute ist geschlossen. Haben wir dies der ungarischen Politik zu verdanken?
Latorcai: Die ungarische Politik – Viktor Orbán – hat auf die Gefahren und Probleme in der Flüchtlingsfrage aufmerksam gemacht. Es könnte sein, dass er das deshalb so klar gesehen hat, weil Ungarn Jahrhunderte lang Schutzwall war. Ich denke, dass wir rechtzeitig erkannt haben, welche Brisanz in der Migrationskrise steckt.
Wirtschaft TV: Wie beeinflussen Flüchtlinge die ungarische Wirtschaft?
Latorcai: Bei uns ist das kein Thema. Deutschland dagegen hat eine Millionen Menschen aufgenommen. Die kulturellen Schwierigkeiten, die diese Situation mit sich bringt, werden immer deutlicher.
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