Europa steht wirtschaftlich wie geopolitisch vor einer Doppelbelastung. Ex-EZB-Chef Mario Draghi mahnte in Brüssel, die EU verliere bei Wachstum, Produktivität und Schlüsseltechnologien gefährlich an Boden. »Wir bewegen uns zu langsam und in der Zwischenzeit ziehen andere vorbei«, sagte er mit Blick auf die USA und China. Sein Befund: unvollendeter Binnenmarkt, fehlende Kapitalmarktunion, zu geringe Investitionen und ein Rückstand bei Künstlicher Intelligenz. Laut seinen Berechnungen braucht die EU jährlich zusätzliche 750 bis 800 Milliarden Euro privater und öffentlicher Investitionen, um aufzuschließen. Besonders deutlich sei die Lücke bei Basismodellen der KI, während die USA 2024 rund 40 neue Modelle hervorbrachten, kam Europa auf drei. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen räumte Lücken ein und versprach eine Reform-Roadmap, forderte aber auch mehr Tempo von den Mitgliedstaaten.
Parallel verschärft Brüssel den außenpolitischen Kurs: Bloomberg meldet, die EU-Kommission arbeite unmittelbar nach einem Telefonat von der Leyens mit US-Präsident Donald Trump an einem 19. Sanktionspaket gegen Russland. Geplant sind neue Listungen von Banken und Energieunternehmen, strengere Auflagen für Ölhandel und Zahlungswege sowie Maßnahmen gegen Schattenflotten und Sanktionsumgehung.
Auch die Nutzung eingefrorener russischer Vermögenswerte für die Ukraine steht laut der Financial Times auf der Agenda. Im Raum stehen EU-Anleihen, die durch diese Erträge gestützt würden. Ein dahingehender Beschluss erfordert jedoch Einstimmigkeit aller Mitgliedstaaten.
Beide Vorgänge zeigen dieselbe Herausforderung: Europa muss wirtschaftlich aufholen und zugleich außenpolitisch handlungsfähig bleiben. Ob die EU in den kommenden Monaten Blockaden bei Binnenmarkt und Kapitalmarktunion überwindet und gleichzeitig eine einheitliche Sanktionspolitik durchsetzt, entscheidet über ihre Position im globalen Wettbewerb.
SK
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